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Zwischen Jesus und Klassenkampf

Nationalraetin Ada Marra, SP

Eine Frage, Frau Marra: Hängen politisches Engagement und Glaube zusammen?

Oft werde ich gefragt, weshalb ich mich entschieden habe, in die Politik zu gehen, und warum in die Sozialdemokratische Partei SP. Ich denke, dass die Geschichten unseres Lebens unsere Entscheidungen beeinflussen. Ich zum Beispiel bin die Tochter eingwanderter italienischer Arbeiter:innen, die in den 60er Jahren in die Schweiz kamen. Sie gehörten zu den Tausenden Arbeitskräften, die zum Aufbau der Schweiz einen Beitrag geleistet haben.

Wir lebten in einem Dorf, das sozial gut durchmischt war. Dennoch merkte ich sehr schnell, dass unsere Lebensstile unterschiedlich waren. Während wir zu fünft in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung lebten, lebten die Freund:innen, die ich manchmal zum Zmorge oder Znacht besuchte, in Villen mit Pool. In diesen Momenten musste ich begreifen, dass wir nicht alle gleich waren. Ich tat dies ohne Eifersucht oder Neid, denn die Eltern meiner Schulkamerad:innen haben uns immer sehr wohlwollend aufgenommen.

Ich glaube, dass es zwei Wege gibt, zur Sozialdemokratie zu kommen : Durch den Marxismus und durch das Christentum. Ich habe das Glück, beides erlebt zu haben. Ich habe die Ungleichheit gesehen. Ich habe den Klassenkampf gesehen. Selbst wenn dieses Wort, Klassenkampf, Angst macht: Man muss zunächst erkennen, um handeln zu können. Es gibt Herrschende und es gibt Beherrschte. Ein System, das einigen mehr nützt als anderen, das bestimmte Gruppen der Bevölkerung unterdrückt.

Nationalraetin Ada Marra an der Frauensession 2021

Ich bin Sozialdemokratin, weil ich Christin bin. Als ich nach dem Studium eine Partei wählen sollte, wurde mir klar, dass die Sozialdemokratische Partei meinen christlichen Werten am nächsten kam. Beide weisen Begrifflichkeiten auf, die für mich Dasselbe bedeuten. Die linke Politik spricht von Solidarität, von Kameradschaft. Die Religion spricht vom Teilen und von Geschwisterlichkeit.  

Eine der wichtigsten Botschaften der Bibel ist für mich die Nähe Jesu zu den Prekarisierten, den Armen, den Ausgegrenzten und Erniedrigten der Gesellschaft. Diesen Kampf, den auch ich führen wollte, habe ich im politischen Engagement gefunden. Mein Glaube offenbart sich in meinem Einsatz gegen Prekarität und im Willen, jenen ein Sprachrohr zu sein, deren Stimme in unserer Gesellschaft kein Gehör geschenkt wird.

Oft wid mir vorgeworfen, ich würde meinen Kampf nur den Ausländer:innen und nicht den Schweizer:innen widmen, aber das stimmt nicht. Es ist so, dass man viele der hier in der Schweiz lebenden Menschen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft in geringqualifizierten Berufen findet, sie in einer grösseren Prekarität findet. Ich kämpfe für das Recht der Sans-Papiers, weil ihre Lebensbedingungen eine der grössten Schanden unserer Wirtschaftssysteme darstellen. Sie sind Arbeitnehmer:innen ohne Rechte. Jede:r weiss um ihre Existenz, aber die politische Mehrheit will ihnen keine Rechte, keinen Status zugestehen.

Was mich im vergangenen Jahr im Parlament antrieb, war es dafür zu sorgen, dass die Schweiz ihre Kinder anerkennt, diese Kinder der Schweiz anerkennt. Anerkennung, nicht nur für die in der Schweiz geborenen Kinder und Jugendlichen, sondern auch für jene Migrationsveteran:innen, die der Schweiz ihr Leben, ihre Kraft und ihre Nachkommenschaft schenkten. Diese Anerkennung muss sich entweder in der Möglichkeit einer Einbürgerung oder in der Erteilung des Stimm- und Wahlrechts niederschlagen. Jede der Einwohner:innen unseres Landes hat das Recht auszudrücken, was er oder sie sich für die Gemeinschaft wünscht. So wird die Würde des Einzelnen, aber auch die der Gesellschaft respektiert.

Noch ein Wort: Manchmal frag(te) ich mich, wo meine christliche Indentität sich im Parlament wiederfinden lässt. Ich glaube, es gehört zu meinem Bestreben, meine politischen Mitstreiter:innen, auch die gegnerischen, nicht in Schubladen zu stecken. Es ist mein Bestreben, Sie als Menschen zu betrachten, noch bevor ich sie als Mitglieder einer Partei betrachte. Nur auf diese Weise, wenn wir einander als Menschen erkennen, ermöglichen wir unserem Nächsten, sich weiterzuentwickeln.

Der Originaltext erschient am 13. Januar 2022 auf der Webseite der Schweizerischen Katholischen Frauen SKF.

Die Waadtländerin Ada Marra ist am 10. März 1973 in Paudex (VD) als Tochter italienischer Arbeitermigrant:innen geboren. Die italienisch-schweizerische Politikwissenschaftlerin wurde 1998 eingebürgert. Ein Jahr zuvor, 1997 trat sie der Sozialdemokratischen Partei SP bei. Von 2004 bis 2007 war Ada Marra Grossrätin des Kantons Waadt. Mit 34 Jahren wurde sie in Parlament gewählt, wo sie bis heute als Nationalrätin tätig ist. Ada Marra engagiert sich in verschiedenen Vereinen ehrenamtlich: Sie war Präsidentin der Westschweizer Vereinigung zur Bekämpfung des Analphabetismus (Lire et Ecrire), engagiert sich bei der Fondation Mère Sofia (Suppenküche sowie Notunterkunft in der Nacht), bei der nationalen Plattform für Sans-Papiers, ist Vorstandsmitglied von Caritas Waadt und Caritas Schweiz. Ada Marra widmet sich der Armutsbekämpfung sowie der Integration für alle. Gemeinsam mit Cécile Bühlmann (a.NR, Grüne) leitete Marra zudem die Kommission für Einwohner:innenstimmrecht an der Frauensession 2021.

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