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Massive Defizite im Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt

Istanbulkonvention in der Schweiz

Expert_innengremium stellt fest: Schweiz mit massiven Defiziten im Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt

Im November 2022 wurde der erste Bericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz veröffentlicht. Darin kommt das internationale Expert_innengremium GREVIO zum Schluss: Die Schweiz erfüllt zahlreiche Anforderungen des seit 2018 rechtskräftigen Abkommens bezüglich Geschlechtsbezogener, Sexualisierter und Häuslicher Gewalt nicht.

Nach fast zweijähriger Untersuchung veröffentlichte GREVIO (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence) heute den ersten, 100-seitigen Bericht zur Umsetzung der Massnahmen gegen Gewalt, zu denen sich die Schweiz mit dem Unterzeichnen der Istanbul-Konvention (IK) 2018 verpflichtet hat. Die Expert_innen mussten bei ihrem Besuch in der Schweiz, in Gesprächen mit Behörden und Fachpersonen sowie aufgrund von Berichten aus der Zivilgesellschaft feststellen, dass massive Lücken in den Massnahmen gegen Gewalt bestehen und die Schweiz die Anforderungen der Istanbul-Konvention nicht erfüllt.

Ungenügende Mittel und zu wenig Schutz

Im Grundsatz bemängelt GREVIO wiederholt, dass die Schweiz erstens nicht genügend Geld und Personalressourcen gegen Gewalt zur Verfügung stellt, zweitens nicht alle Formen von Gewalt gemäss Istanbul-Konvention adressiert und drittens weiterhin bestimmte Betroffene von Gewalt diskriminiert und zu wenig schützt. Die NGOs und Fachstellen des Netzwerks Istanbul Konvention begrüssen den Bericht von GREVIO und die damit verbundenen Forderungen: «GREVIO bestätigt, was wir in der Praxis erleben: dass die Schweiz grosse Defizite im Kampf gegen Gewalt und im Schutz von Gewaltbetroffenen hat», sagt Simone Eggler, Co-Koordination Netzwerk Istanbul Konvention, «jetzt müssen endlich substanziell und nachhaltig Gelder gesprochen werden und wirklich alle Betroffenen von Gewalt unterstützt und geschützt werden.» 

Höchste Dringlichkeitsstufe

Das Expert_innengremium hat insgesamt 59 konkrete Empfehlungen mit verschiedenen Dringlichkeiten ausgesprochen. Die höchste Dringlichkeitsstufe sieht GREVIO in folgenden Bereichen und ermahnt die Schweiz nachdrücklich:

  • Das Opferhilfegesetz zu revidieren und Angebote Migrant_innen und Geflüchteten zugänglich zu machen, auch bei Gewalttaten mit Tatort Ausland.
  • Gewaltbetroffenen Migrantinnen, deren Aufenthaltsstatus von der Ehe abhängt, einen Zugang zu einer unabhängigen Aufenthaltsbewilligung zu ermöglichen, damit sie nicht gezwungen sind, in einer Gewaltehe zu verbleiben.
  • Das Sexualstrafrecht im Sinne einer «Nur Ja heisst Ja» anzupassen.
  • Die systematische Datenerhebung bei allen Formen von Gewalt gemäss IK substanziell zu verbessern bezüglich Inhalt, Aussagekraft und Präzision.
  • Massnahmen zu ergreifen, damit geschlechtsbezogene Gewalt von den Behörden als solche anerkannt und benannt wird. (Ein Beispiel sind hier Feminizide.)
  • Die Finanzierung von Massnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt sowie von spezialisierten Organisationen und Angeboten gegen Gewalt in der Schweiz nachhaltig sicherzustellen.
  • Eine adäquate und stabile Finanzierung von spezialisierten Schutzunterkünften mit genügend Plätzen zu sichern, damit allen Gewaltbetroffenen und ihren Kindern Schutz garantiert werden kann.
  • Massnahmen zu ergreifen, dass bei der Festlegung und Ausübung von Sorge- und Besuchsrecht die Sicherheit der Gewaltbetroffenen und ihren Kindern beachtet und mit oberster Priorität behandelt wird.
  • Evaluationen der Strafverfolgungs- und Rechtspraxis und allfälligen Anpassungen der Gesetze und Praxis der Strafverfolgungsbehörden einzuführen.
  • ein gesamtschweizerisch standardisiertes und geschlechtersensibles Vorgehen zu Risikoeinschätzung und Sicherheitsmanagement einzuführen, das bei allen Fällen von Gewalt inkl. Zwangsheirat, FGM/C und Sexualisierter Gewalt in der ganzen Schweiz systematisch angewendet wird – sowie Hürden für die überkantonale Zusammenarbeit abzubauen.

«Die Mahnungen von GREVIO reichen von den absoluten Grundlagen wie dem Benennen von Geschlechtsbezogener Gewalt, einer konsequenten Datenerhebung und einer nachhaltigen Finanzierung bis zu ganz konkreten Umsetzungen wie der Revision des Opferhilfegesetzes und des Sexualstrafrechts», so Anna-Béatrice Schmaltz, Co-Koordinatorin Netzwerk Istanbul Konvention. Das Netzwerk Istanbul Konvention, bei dem auch die Evangelischen Frauen Schweiz Mitglied sind, fordert von Bund, Kantonen und Gemeinden die sofortige Umsetzung dieser Mahnungen wie auch aller weiteren Empfehlungen.

Autor_in: Netzwerk Istanbul Konvention

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